· 

Mehr Pädiater und doch weniger Zeit pro Kind - Wie ist das Paradoxon zu lösen?

Mehr Pädiater und doch weniger Zeit pro Kind - Wie ist das Paradoxon zu lösen?

Die Zeit, die einem Kinder- und Jugendarzt heute pro Kind zur Verfügung steht, nimmt immer weiter ab - trotz der stetig wachsenden Zahl von ambulant tätigen Kinder- und Jugendärzten auf mittlerweile 8.200. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Und könnte dieses Paradoxon aufgelöst werden?

 

Ein Erklärungsansatz ist: In jüngster Zeit haben die Tätigkeitsfelder der in der Praxis tätigen Kinder- und Jugendmediziner spürbar zugenommen. Und das nicht nur wegen der zuletzt tendenziell ansteigenden Anzahl von Geburten auf jährlich 784.000 im Schnitt der letzten 3 Jahre. Neue Herausforderungen ergeben sich auch aufgrund der einschneiden Folgen der Corona-Pandemie. Denn auch hier sind neue Bereiche hinzugekommen (etwas das Ausstellen vermehrter Atteste oder ein weit höherer Beratungsbedarf bei Fragen rund um COVID-19 Erkrankungen), die den Arbeitsdruck weiter erhöht haben.

 

Tatsache ist weiterhin: Weit stärker als früher sind zudem die Pädiater heutzutage vor allem bei den Themen Kinderschutz, sexueller Missbrauch und sozial benachteiligte Kinder aus bildungsfernen Familien gefordert. Diese politische Advocacy erfordert einen immer höheren Personaleinsatz und eine sehr aufwändige und kaum mehr zu erbringende Netzwerktätigkeit mit anderen Berufsgruppen aus der Sozial- und Jugendarbeit.

 

Hinzu kommt: Die Gesamtanzahl der von Kinder- und Jugendärzten erbrachten Impfleistungen stieg von 8,3 Millionen im Jahr 2010 auf 10,3 Millionen 2017. Der gleiche Trend zeigt sich bei den Vorsorgeuntersuchungen: Während laut Versorgungsmonitor 2010 noch 538.000 U3-Untersuchungen abgerechnet wurden, waren es 2017 bereits 631.000.

 

Und dann: Mehr Behandlungsfälle, etwa durch psychische Auffälligkeiten. Laut den jüngst vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) und dem BVKJ veröffentlichten „Versorgungsmonitor Ambulante Kinder- und Jugendmedizin“ 2020 ist die Zahl der unter 18-Jährigen, bei denen Kinder- und Jugendärzte eine psychosoziale Auffälligkeit diagnostiziert haben, ist zwischen 2010 und 2017 deutlich angestiegen: Entwicklungsstörungen nahmen um 37 Prozent, Störungen des Sozialverhaltens um 22 Prozent und Anpassungsstörungen gar um 39 Prozent zu. Fakt ist dabei, dass die Betreuung von Kindern mit psychischen Störungen weitaus aufwändiger als etwa die Behandlung eines einfachen Magen-Darm-Infekts ist.

 

Die Folgen aus alledem: Die vorhandenen Kapazitäten in der ambulanten Kinder- und Jugendmedizin reichen kaum mehr aus, um alle Kinder und Jugendlichen bestmöglich medizinisch zu versorgen.

 

Das Dilemma: Aber es gibt doch mehr Pädiater, die das doch eigentlich auffangen sollten.  Doch auch das ist ein Trugschluss. Denn mehr Pädiater bedeuten heute nicht, dass auch mehr Kapazitäten zur Verfügung stehen. Der Wunsch nach Anstellung mit klar festgelegten Zeiten, reduzierten Arbeitszeiten oder von vorneherein Teilzeitstellen sind der Grund dafür, dass mehr Köpfe in der Pädiatrie nicht automatisch mehr pädiatrische Expertise bedeuten.

 

Dieses Paradoxon kann nur dann aufgelöst werden, wenn

 

·         Bedarfszahlen anpassen: Die Zahl der Pädiater Sitze muss rasch an die gestiegenen Anforderungen angepasst werde: es müssen mehr Pädiater zugelassen werden!

 

·         Ausbau neuer Arbeitszeitmodelle: Weit mehr Teilzeitstellen und zeitlich flexible Arbeitsangebote müssen rasch implementiert und mit finanziellen Anreizen versehen werden. Nur so kann der Wunsch der Pädiater nach geringeren Wochen- und Lebensarbeitszeiten und einer ausgeglichenen Work-Life-Balance erfüllt werden.

 

·         Mehr Kinder – und Jugendärzte: Wenn das Versorgungsniveau in der Kinder- und Jugendmedizin in Zukunft gesichert werden soll, müssen die Bundesländer die Studienplatzkapazitäten im Fach Humanmedizin spürbar aufstocken und die speziell die Weiterbildungsmöglichkeiten in der Pädiatrie personell und finanziell deutlich verbessern.

 

Nur so kann das Paradoxon für die Pädiatrie aufgelöst werden. Werden diese Fakten von der Politik jedoch weiter ignoriert, wird einem Kinder- und Jugendarzt bald noch weniger Zeit pro Kind als zur Zeit zur Verfügung stehen. Die verbesserten und zum Teil guten Honorare, die den Pädiatern zuletzt für viele ihre lange Zeit tatsächlich unterbewerteten Leistungen zugut kamen, ändern an diesem Dilemma nichts!