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Immer mehr belastete Kinder – Ungleichgewichte nehmen zu

 

 

 Der Trend ist eindeutig: Das Auseinanderklaffen von wohlhabenden und belasteten Familien hat sich durch die Einschränkungen in Folge von Corona sowie durch die Inflation und Energieknappheit weiter vergrößert. Das hat auch gravierende Auswirkungen auf ohnehin schon benachteiligte Kinder. Experten schlagen jetzt Alarm.

 

 

 

So zum Beispiel Prof. Dr. Jörg Maywald vom Vorstand der „Deutschen Liga für das Kind“ und Mitglied im Beirat der „National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention“ im Exklusiv-Interview mit dem Deutschen Kinderbulletin. Um dieses auch von den Pädiatern in ihren Praxen zunehmend erlebte Ungleichgewicht aufzufangen, müssten bereits Krippen und Kitas sowie auch die Schulen in Brennpunkt-Stadtteilen für Kinder aus bildungsfernen Familien weit besser ausgestattet werden als dies derzeit der Fall ist.

 

 

 

Der hohe Anteil armer Kinder (derzeit 2,8 Millionen) ist für Maywald extrem beunruhigend, da damit inzwischen jedes fünfte Kind in Deutschland in relativer Armut lebt. Um hier endlich Chancengleichheit herzustellen, bedarf es künftig insbesondere einer „ungleichen Verteilung von Ressourcen“ bei der Kinderbetreuung. Diejenigen Einrichtungen, die am meisten Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien betreuen, müssten personell und finanziell am besten ausgestattet werden. Das sind auch Forderungen, die das Deutsche Kinderbulletin erhebt.

 

 

 

Zudem plädiert Maywald auch für einen erweiterten Bildungsbegriff, der viel zu stark auf das Thema Bildung und zu wenig auf die Erziehung ausgerichtet ist. Zu einem ganzheitlichen Bildungsverständnis gehörten zum Beispiel auch die Bewegungserziehung, weitere gezielte gesundheitsfördernde Maßnahmen sowie eine bessere sozial emotionale und auch kulturelle Förderung benachteiligter Kinder.

 

 

 

Und schließlich setzt sich Maywald auch für die Verankerung der Kinderrechte ins Grundgesetz ein und unterstützt damit auch die entsprechende Forderung der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland. Erst wenn solche Rechte Bestandteil der Verfassung wären, hätten zumindest mittelfristig Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien bessere Lebensperspektiven als dies derzeit der Fall ist.

 

 

 

 

 

 

 

Und hier das ausführliche Interview von Raimund Schmid mit Prof. Maywald

 

 

 

Im Interview mit dem deutschen Kinderbulletin fordert Prof. Jörg Maywald ein neues Bildungsverständnis in Deutschland

 

 

 

„Wir müssen Krippen, Kitas und Schulen in Brennpunkt-Stadtteilen

 

für Kinder aus bildungsfernen Familien viel besser ausstatten“

 

 

 

Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben im Vergleich zu anderen Kindern eine deutlich schlechtere Lebensperspektive. Das weiß man seit langen, Trotzdem ändert sich wenig, die Schere läuft sogar immer weiter auseinander?

 

 

 

Maywald: Tatsächlich erleben wir eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Wir haben mehr arme Kinder und eine kleine Gruppe von Kindern aus reicher gewordenen Familien. Beunruhigend ist aber gerade der hohe Anteil armer Kinder, wir reden etwa von 2,8 Millionen. Somit lebt etwa jedes 5. Kind in Deutschland in relativer Armut. Das bedeutet, dass in diesen Familien weniger als 60 % des bedarfsgewichteten mittleren Einkommens zur Verfügung steht. Das ist sehr beunruhigend. Vergrößert hat sich das Auseinanderklaffen von Wohlhabenden und belasteten Familien durch die Einschränkungen infolge von Corona sowie durch Inflation und Energieknappheit, weil davon die armen Familien besonders betroffen sind. Dieses Fünftel aller Kinder ist nicht nur materiell arm, sondern auch bildungsarm und zumeist auch gesundheitlich stärker benachteiligt. Damit werden hier die Rechte der Kinder nach der UN-Kinderrechtskonvention auf bestmögliche Entwicklung, einen angemessenen Lebensstand und auf gesundheitliche Versorgung grob verletzt.

 

 

 

Wer oder was ist für dieses Ungleichgewicht verantwortlich?

 

 

 

Maywald: Beim Dreiklang Sozialpolitik, Bildungspolitik und Gesundheitspolitik fehlt die Verbindung zwischen diesen drei Politikbereichen. Wir denken immer noch viel zu stark sektorenbezogen. Das müssen wir dringend ändern! Und zweitens handeln wir häufig viel zu stark individuumszentriert. Vor allem die Verhaltensprävention steht zumeist im Vordergrund. Viel besser wäre es, wenn wir ergänzend auch die Zustände in Kitas und Schulen in den Blick nehmen. Nur mit Hilfe einer solchen Verhältnisprävention können wir die strukturellen Bedingungen gerade für Kinder aus benachteiligten Familien verbessern.

 

 

 

Aber reicht das aus, um an die Kinder ranzukommen, die wir bisher nicht erreichen?

 

 

 

Maywald: Richtig ist nach wie vor, dass wir an die besonders betroffenen und belasteten Familien nicht so einfach herankommen. Aber das liegt eben genau daran, dass wir vor allem in Kategorien der Verhaltensprävention denken. Da gibt es das berühmte Präventionsparadox, dass von den Angeboten am meisten diejenigen profitieren, die es am wenigsten benötigen. Daher müssen wir einen großen Switch vollziehen und nun endlich viel stärker in die Verhältnisprävention investieren.

 

Im Fokus sollten dabei die pädagogischen Institutionen - angefangen von der Krippe über die Kita bis hin zur Schule - stehen. Über diese Kanäle erreichen wir tatsächlich alle – insbesondere die belasteten – Kinder. Um hier Chancengleichheit herzustellen, braucht es - so paradox es zunächst klingen mag - eine ungleiche Verteilung von Ressourcen. Diejenigen Einrichtungen müssen am besten ausgestattet werden, die am meisten belastete Kinder in ihren Reihen haben. Das ist aber heute kaum der Fall und deshalb müssen wir genau hier ansetzen. Denn Kinder, die in sozial und finanziell stabilen Verhältnissen aufwachsen, haben oft Eltern, die sich zusätzliche Bildungsangebote für ihre Kinder leisten können. Deshalb muss man für diejenigen Kitas und Schulen viel mehr zusätzliche Mittel locker machen, die besonders viele Kinder aus bildungsfernen Familien aufnehmen, weil nur dann deren Nachteile ausgeglichen werden können.

 

 

 

Treten dabei nicht auch ganz neue Herausforderungen auf?

 

 

 

Maywald: Ja, auf jeden Fall. Auch Herausforderungen, an die man im ersten Moment vielleicht gar nicht denkt. Zum Beispiel die Tatsache, dass Fehlverhalten bis hin zur Gewalt durch Fachkräfte gerade gegenüber belasteten Kindern häufig stattfindet. Wir haben bereits die gesetzliche Verpflichtung, im Kitabereich Gewalt-Schutzkonzepte zu entwickeln. Im schulischen Bereich ist dies von Bundesland zu Bundesland noch unterschiedlich geregelt. Es gibt Bundesländer wie etwa in Berlin, wo genau das neuerdings vorgeschrieben ist. Beschwerdemöglichkeiten für Kinder und Eltern etwa, Prävention von und Intervention bei Gewalt. Meine Zukunftsvision wäre, nicht nur Gewalt-Schutzkonzepte zu erarbeiten, sondern Kinderrechts-Schutzkonzepte, um auf diese Weise sämtliche Kinderrechte, darunter Medienschutz und Gesundheitsschutz, besser zu verwirklichen. Aber auch, um beunruhigenden Phänomenen wie Rassismus und Antisemitismus besser zu begegnen.

 

 

 

Haben wir im Bereich der frühkindlichen Bildung überhaupt das richtige Bildungsverständnis?

 

 

 

Nein, keinesfalls, weil wir unglücklicherweise in Deutschland ein sehr kognitiv verengtes Bildungsverständnis haben. Seit Wilhelm von Humboldt unterscheiden wir zwischen Bildung und Erziehung. In vielen anderen Ländern sind beide Aspekte in dem Begriff „Education“ zusammengefasst, also Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte sehen sich sowohl in Bildungs- als auch in erzieherischer und damit auch in sozialpädagogischer Verantwortung. Hierzulande fühlen sich dagegen viele Lehrkräfte nur für Bildung zuständig und glauben, mit anderen - nicht auf kognitiven Wissenserwerb bezogenen - Bildungsaspekten nichts zu tun haben zu müssen. Zu einem erweiterten Bildungsverständnis gehören zum Beispiel auch die Bewegungserziehung, sozial-emotionale Förderung und kulturelle Angebote für Kinder. Von einem solchen ganzheitlichen Bildungsverständnis sind wir hierzulande noch weit entfernt. Defizite gibt es diesbezüglich vor allem in den Schulen.

 

 

 

Und dann müssen wir unbedingt die Kitas und Schulen in Brennpunktgebieten besser ausstatten. Es gilt Anreize zu schaffen und die Ausstattung zu verbessern, damit sich gerade die besten Fachkräfte bemühen, genau dorthin zu gehen. Es gibt gute Vorbilder, zum Beispiel die berühmte Rütli Schule in Berlin, die es geschafft hat, von einer lange von vielen gemiedenen Brennpunktschule zu einer Vorzeigeeinrichtung zu werden. Das zeigt, wir können es hinbekommen, wenn wir diese Einrichtungen überproportional fördern.

 

 

 

Würde dieser Prozess nicht dann besser vorangetrieben werden können, wenn die Koalition ihrem Anspruch, die Kinderrechte ins Grundgesetz zu verankern, endlich erfüllen würde?

 

 

 

Maywald: Ganz klar Ja. Ich bin ein nachdrücklicher Vertreter derjenigen, die sich dafür einsetzen, Kinderrechte endlich in die Verfassung aufzunehmen. Um da jedoch gleich ein Missverständnis auszuräumen: Es geht dabei nicht darum, die Elternrechte einzuschränken. Vielmehr geht es darum, mit Kinderrechten im Grundgesetz die Position der Kinder und damit auch der Eltern gegenüber dem Staat zu stärken. Bei allen politischen Vorhaben sollten künftig in allen Bereichen - nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in der Medizin, im Kulturbereich oder bei Klimafragen- die besten Interessen der Kinder – das Kindeswohl – vorrangig berücksichtigt werden. Wenn wir dieses Prinzip in der Verfassung hätten, dann hätte das zumindest mittelfristig spürbar positive Auswirkungen gerade für eine bessere Lebensperspektive sozial benachteiligter Kinder.

 

 

 

 

 

 

 

Zur Person

 

Prof. Dr. Jörg Maywald, geboren 1955, Studium der Soziologie, Psychologie und Pädagogik, ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums. Er war viele Jahre in der Kinder- und Jugendhilfe, im Jugendgesundheitsbereich und in der Erwachsenenbildung tätig. Von 1995 bis 2021 war er Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und ist dort heute noch im Vorstand vertreten. Dort war er auch – bis heute - Schriftleiter der 6-mal im Jahr erscheinenden Fachzeitschrift „Frühe Kindheit“. Von 2002 bis 2022 war er zudem Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland und ist heute noch Mitglied des Beirats. Seit 2011 ist er Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam.