Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen hat in Deutschland einen erneuten traurigen Höchststand erreicht: In den vergangenen 10 Jahren hat sich die Zahl der Kindeswohlgefährdungen um 63 Prozent – das entspricht 24.000 Fälle - erhöht. Doch was sind die Gründe für diesen erschreckenden Trend?
Vor der Analyse zunächst weitere knallharte Fakten: im Jahr 2022 mussten sich die Jugendämter bei fast 62.300 Kindern oder Jugendlichen mit einer Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt befassen. Das waren laut Statistischem Bundesamt noch einmal rund 2.300 Fälle oder vier Prozent mehr als im Jahr zuvor. Besonders gravierend ist die Tatsache, dass 22 Prozent aller Minderjährigen gleich mehrfachen Misshandlungen ausgesetzt waren. 2015 waren es „erst“ 16 Prozent. Doch damit nicht genug. In weiteren 68.900 Fällen kamen die Behörden zu der Einschätzung, dass zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber ein begründeter erzieherischer Hilfebedarf vorliegt. Insgesamt mussten die Jugendämter 2022 mehr als 203.700 Hinweismeldungen nachgehen. Die Dunkelziffer ist unbekannt, vermutlich aber hoch.
Die Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdungen sind vielfältig, hängen aber zumeist stark vom Alter des Kindes ab: :8 von 10 betroffenen Kinder sind im Vorjahr jünger als 14 Jahre gewesen, fast jedes zweite sogar jünger als acht Jahre (47 Prozent). Die meisten dieser Minderjährigen wuchsen bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern (42 Prozent) auf. Besonders hoch ist bei alleinerziehenden-Familien auch der Anteil von Kindern, die außerhalb der eigenen Familie – in Heimen oder Pflegefamilien - aufwachsen müssen. Diese Alleinerziehenden sind zumeist finanziell überfordert, da sie zu 75 Prozent Transfer- oder Sozialleistungen beziehen.
Den Alltag können wohl aber viele komplette Familien nicht mehr so stemmen, ohne dass die eigenen Kinder in Mitleidenschaft gezogen werden. Fast die Hälfte der betroffenen Jungen und Mädchen, deren Kindeswohl gefährdet ist, haben schon mal eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch genommen und waren so dem Jugendamt bereits bekannt.
Wie kann diesem Dilemma begegnet werden? Hier muss auf 2 Ebenen angesetzt werden. Politisch muss überdacht werden, wie die vielfältigen Unterstützungsleistungen des Sozialstaates nicht noch stärker auf die tatsächlich bedürftigen Familien umgesteuert werden können. Und alle Fachkräfte, die sich mit der Thematik befassen, müssen hellhöriger zu werden. „Wir stellen die Diagnose zu selten“ beklagt Dr. Bernd Herrmann, Oberarzt am Klinikum Kassel und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin zu Recht. Denn nur 6,6 Prozent aller Meldungen kommen aus dem Gesundheitssektor. Das ist viel zu wenig. Denn wer sonst kann überhaupt eine Verdachtsdiagnose stellen, wenn die Eltern als Verursacher der Kindeswohlgefährdungen ihre Delikte in der Regel kaum selbst anzeigen und Angehörige oder Nachbarn auch eher selten einen Verdacht melden. Daher sind hier vorwiegend Mediziner – insbesondere Pädiater – sowie Erzieherinnen und Pädagogen gefordert. Tatsächlich eine enorm große Herausforderung für diese Berufsgruppen – und dennoch alternativlos!